Dr. Christopher Blum  Nachhaltige Chemie - Anspruch und Wirklichkeit

Umweltbundesamt

 

Dr. Christopher Blum  Nachhaltige Chemie - Anspruch und Wirklichkeit

Umweltbundesamt

Dr. Christopher Blum  In den industrialisierten Ländern existiert seitens der Verbraucher und Konsumenten eine steigende Nachfrage nach sicheren und nachhaltig hergestellten Produkten und Lebensmitteln. Zudem nehmen in einer globalisierten Wirtschaft die Umwelt- und Gesundheitsprobleme sowie die negativen sozialen Auswirkungen in Entwicklungsländern zu. Dies zeigt, dass der Bedarf an global wirksamen, nachhaltigeren Strategien von Verbänden, Behörden und Politik gemeinsam gefordert, entwickelt und voran getrieben werden muss.


  Nachhaltigkeit in der Chemie umfasst den gesamten Lebensweg von Chemikalien. Gefährliche Stoffe können über ihren gesamten Lebenszyklus - bei der Herstellung, der Nutzung, dem Recycling und der Entsorgung - entweichen und die Umwelt sowie die menschliche Gesundheit belasten. Grundsätzlich besteht in vielen Bereichen des Chemikalienmanagements immer noch ein Nachholbedarf im Umwelt- und Gesundheitsschutz, der durch zwei Hauptziele einer Nachhaltigen Chemie benannt werden kann: Es gilt schädliche Emissionen in Gewässern, Böden, in dem Innenraum und in der Atmosphäre zu vermeiden oder zumindest zu verringern und Ressourcen in Form von Materialien und Energie in geringst möglichem Umfang zu beanspruchen.


  Nachhaltige Chemie besteht jedoch nicht nur aus vorsorgendem Umwelt- und Gesundheitsschutz, sondern bietet eine Perspektive für die gesamte Chemiebranche. Denn die Handlungsfelder sind vielfältig und betreffen neben Umwelt- und Gesundheitsschutz auch soziale Aspekte und ökonomische Konzepte. Die chemische Industrie kann mit nachhaltigen Innovationen, wie neuen Wärmedämmungsmaterialien den Energieverbrauch senken oder in Form von Solarenergie dazu beitragen alternative Energiequellen zu erschließen sowie deren Wirkungsgrad zu steigern.  


  Die Aktionsfelder Ökonomie, Umwelt und Gesundheit sowie die Bedürfnisse und Wünsche der Gesellschaft sind miteinander vernetzt und müssen in eine Gesamteinschätzung der Nachhaltigkeit gemeinsam einfließen. Hieraus ergibt sich die Herausforderung, die Einzelaspekte zusammen zu führen und möglicherweise für einen Entscheidungsprozess zu gewichten. Der offensichtliche Nachholbedarf in den Bereichen Umwelt, Gesundheit und sozialer Verantwortung gilt hierbei nicht nur für die regionale, sondern auch auf globaler Ebene.

  Es existieren bereits viele unterschiedliche konzeptionelle Ansätze zur Nachhaltigkeit in der Chemiebranche. Immer mehr Unternehmen setzen einzelne Aspekte einer nachhaltigen Chemie um. Dieser Trend birgt für die Chemiebranche große ökonomische Chancen und eröffnet den Unternehmen Marktvorteile, wenn sie durch innovative Prozess- und Geschäftsideen ihre Kunden mit einem besseren Produkt überzeugen. Insgesamt trägt das Wachstum einer nachhaltigen Chemieökonomie auch dazu bei, den Wettbewerb in den Märkten zu fördern. Nachhaltigkeit kann so mittelfristig zu einem innovativen Umgang mit Chemikalien führen und damit auch ökonomisch attraktiv sein.


Voraussetzungen für eine Nachhaltige Chemie


Was bedeutet Nachhaltigkeit für chemische Substanzen? Zum Einen soll ihre Gefährlichkeit so gering wie möglich sein. Des Weiteren sind Emissionen und Abfall zu vermeiden oder zu verringern. Nachwachsende Rohstoffe und Abfälle sind als Rohstoffe in den Prozessen vermehrt zu nutzen. Voraussetzungen für eine nachhaltige Nutzung von nachwachsenden Rohstoffen sind allerdings, dass die Kohlendioxid-Bilanz über die gesamte Herstellung gesehen günstiger ist gegenüber herkömmlichen Ressourcen, keine natürlichen Lebensräume wie Regenwälder für den Anbau weichen müssen und Konkurrenz zum Nahrungsmittelanbau vermieden wird.


  Ein wichtiges Element der Nachhaltigkeit in der Chemie ist sicherlich, die Anlagen störfallsicher zu errichten und zu betreiben. Um die Effizienz der Verfahren zu steigern und die Umwelt bei der Herstellung der Chemikalien zu entlasten, reicht Anlagensicherheit oder die Optimierung von einzelnen Syntheseschritten nicht aus. Ganze Produktionsverfahren, einschließlich vorgelagerter Produktionsverfahren für Ausgangs- und Hilfsstoffe sowie nachgelagerter Verarbeitungsprozesse sind auf Alternativen zu prüfen oder hierfür neue Synthesewege zu entwickeln. Ziel einer solchen Optimierung ist, den Verbrauch von natürlichen Ressourcen zu senken und unerwünschte Nebenprodukte zu vermeiden. Denn Herstellungs- und Verarbeitungsverfahren tragen dann zur Nachhaltigkeit bei, wenn sie wenig Energie- und stoffliche Ressourcen verbrauchen. Entwickler und Hersteller sollten zum Beispiel auch zunehmend die Vorsyntheseleistung der Natur berücksichtigen. Die Prozesse würden effizienter und der Energieverbrauch durch weniger Syntheseschritte sinken.


  Nachhaltige Chemiepolitik zielt darauf, sichere Chemikalien zu verwenden, sichere Bedingungen für den Umgang mit Chemikalien zu schaffen und zudem wenige Ressourcen für ihre Herstellung zu verbrauchen. Nachhaltigkeit bedeutet aber auch, Chemikalien nur dann in die Wertschöpfungskette einzubringen, wenn ihre Wirkungen auf Umwelt und menschliche Gesundheit bekannt sind. Hersteller und Weiterverarbeiter von Stoffen werden so ihrer Verantwortung für einen sicheren Umgang mit den Substanzen gerecht.


Leitfaden Nachhaltige Chemikalien

Das Umweltbundesamt hat in einem Forschungsvorhaben einen Leitfaden Nachhaltige Chemikalien für Stoffhersteller, Formulierer und Endanwender von Chemikalien entwickelt. Der Leitfaden soll gewerblichen bzw. industriellen Anwendern helfen, Stoffrisiken schrittweise zu bewerten und nicht nachhaltige von nachhaltigen Chemikalien zu unterscheiden und auszuwählen. Durch eine differenzierte Betrachtung anwendungsbezogener Aspekte sollen Unternehmen auch dabei unterstützt werden, Chemikalien nachhaltiger einzusetzen.

  Der Leitfaden wurde so konzipiert, dass gewerbliche bzw. industrielle Anwender eine schrittweise Bewertung potentieller Stoffrisiken durchführen können. Dazu wurden die folgenden Aspekte im Sinne einer Nachhaltigen Chemie in den Leitfaden integriert: In der Hauptbetrachtung werden acht Stoff-bezogene Kriterien zur Bewertung der Substanzeigenschaften herangezogen. Diese sind:


  1. die Nennung in Problemstoff-Listen


  1. die Gefährlichkeit aufgrund physikalisch-chemischer Eigenschaften


  1. Human- und Ökotoxizität

Während die drei größten Branchen des verarbeitenden Gewerbes - PKW, Maschinenbau, Nahrungsmittel – sich für jeden Bürger im täglichen Bewusstsein wiederfinden, tritt die Chemiebranche als Nummer 4 regelmäßig erst bei Tankerunglücken oder gesundheitsschädlichem Spielzeug für Kinder ins öffentliche Licht. Dabei sitzen, gehen und liegen wir auf Chemiekalien. Sie machen mit circa 11 Prozent Umsatz aller verarbeitenden Gewerbe auch einen Großteil der deutschen Exporte aus. Trotz eigener Anstrengungen von Industrie und vielen mittelständischen Chemiebetrieben greifen regelmäßig Regierungen und EU-Kommission das Gefährdungspotential von Chemikalien und ihrer Herstellung auf und veranlassen europaweit neue Gesetze und Verordnungen, in einem Kapital intensiven Bereich, der bereits schon reguliert ist. Der Spagat zwischen Verbraucher- und Umweltschutz auf der einen Seite und kostenintensive, administrative Maßnahmen auf der anderen Seite, führt regelmäßig zu heftigen Diskussionen von Industrieverbänden der Chemie mit den Umweltschutz- und Verbraucherorganisationen. Beide Seiten verfolgen dabei über Jahre hinweg das Gesetzgebungsverfahren.


  Das Problem liegt allerdings im Regelungsgegenstand selbst: Über 100.000 verschiedene Chemikalien werden in Europa produziert, weiter verarbeitet, transportiert und gehandelt. Je nach Zusammensetzung und Konzentration verändert sich außerdem ihr Gefahrenpotential. Mit dem umfassenden Ansatz von REACH Registration, Evaluation, Authorisation of Chemicals besteht nun Hoffnung, eine umfassende Regelung aus Schutz- und Nachhaltigkeitsaspekten gefunden zu haben. REACH hat bisher circa 30.000 Chemikalien erfasst.


  Die Geschichte  dieses  Mammut-Projektes reicht bis auf das Jahr 2001 zurück, in dem die EU-Kommission das Weißbuch Strategie für eine zukünftige Chemikalienpolitik vorstellte. Stoffe die vor September 1981 bereits auf dem Markt waren, unterlagen bis dato als „Altstoffe“ (99% des damaligen Marktes) keiner generellen Prüfungspflicht, wie sie nach Richtlinie 67/548 für neue Stoffe galt. Das EU-Parlament verabschiedete deshalb Ende 2006 die entsprechende EU-Chemikalienverordnung, welche dann im Juni 2007 in Kraft trat. In den USA wurde ein ähnlicher Ansatz aufgrund der Gore-Initiative für 2.800 Chemikalien





bis zum Jahr 2004 in Angriff genommen. Die aktuellen Änderungen finden sich in der EU-Verordnung 1152/2010 vom 8. Dezember 2010. Hersteller und Importeure chemischer Stoffe müssen danach diese auf ihr Gefahrenpotential evaluieren lassen und die gewonnenen Daten durch die ECHA European Chemicals Agency in Helsinki registrieren. Je nach Umschlagsmenge musste die Registrierung bis November 2010 abgeschlossen sein oder es gelten Übergangsfristen wie beispielsweise bis Mai 2013 für Mengen größer 100 t/Jahr.


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