Dr. Jörg Witting

Im Kartellrecht steigt die Relevanz von Compliance

Compliance Management Kompendium

 

Dr. Jörg Witting

Im Kartellrecht steigt die Relevanz von Compliance

Compliance Management Kompendium

Dr. Jörg Witting Kartellrechtsverstöße sind keine Kavaliersdelikte. Verhaltensweisen, bei denen manche Unternehmen früher nicht so genau hingesehen haben, können heute erhebliche, unter Umständen existenzbedrohende Folgen für das Unternehmen und gravierende Konsequenzen für den einzelnen Mitarbeiter haben. Eine wirksame Compliance kann Kartellrechtsverstößen vorbeugen und persönlich Verantwortliche schützen. Warum hat das Kartellrecht in den vergangenen Jahren so massiv an Bedeutung gewonnen? Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: Die Kartellbehörden haben ihre Ermittlungstätigkeit zur Verfolgung von Kartellen und anderen unzulässigen Absprachen deutlich erhöht. Ein Grund für diese Zunahme ist der Erfolg der Kronzeugen- oder Bonusregelungen, die es in ähnlicher Form auf europäischer und deutscher Ebene gibt. Danach können an einem Kartell beteiligte Unternehmen vollkommen oder teilweise von einem Bußgeld verschont werden, wenn sie sich der Europäischen Kommission oder dem Bundeskartellamt offenbaren und so die Verfolgung eines Kartells ermöglichen. Die Behörden bekommen damit die relevanten Informationen häufig „frei Haus“ geliefert und haben sich mit Spezialeinheiten speziell zur Kartellbekämpfung verstärkt -  zumal hierfür Kapazitäten frei wurden, nachdem durch einen gesetzlichen Systemwechsel vor einigen Jahren zeitraubende Genehmigungsverfahren zu kartellrechtlichen Ausnahmetatbeständen abgeschafft und einer Selbstbewertung durch die Unternehmen überantwortet wurden.


  Der Anreiz, die Bonusregelungen in Anspruch zu nehmen, ist in der Praxis hoch, weil die in Brüssel oder Bonn seit einiger Zeit verhängten Bußgelder gravierende Dimensionen erreicht haben. Hohe zweistellige und dreistellige Euro-Millionenbeträge sind fast an der Tagesordnung und können (teilweise schon im Vorfeld bei entsprechendem Rückstellungsbedarf) kritische Auswirkungen auf das Unternehmen haben. Allein die Europäische Kommission hat im letzten Jahr Bußgelder von insgesamt ca. € 3 Mrd. verhängt, in einem Einzelfall der Luftfahrtbranche etwa in Höhe von über € 300 Mio. Das Bundeskartellamt ist jüngst immer wieder auch gegen kleinere Unternehmen im nicht industriellen Bereich mit Millionenbußgeldern vorgegangen. Letztlich ist zu beachten, dass ein Bußgeld gegen ein Unternehmen bis zu 10% seines Umsatzes erreichen kann. Nach deutschem Kartellrecht können auch gegen natürliche Personen Bußgelder verhängt werden, also etwa gegen die konkret handelnden Personen oder gegen Vorstände und Geschäftsführer, die ihre Aufsichtspflichten verletzt haben.


  In der Unternehmenspraxis ist auch wichtig, dass kartellamtliche Ermittlungsverfahren häufig langwierig sind, Zeit und Kräfte des Managements binden und in der Regel erheblichen zeit- und kostenaufwändigen Beratungsbedarf mit sich bringen. Nicht zu unterschätzen sind schließlich negative Auswirkungen in der öffentlichen Wahrnehmung des Unternehmens, wenn etwa über Monate hinweg über kartellamtliche Ermittlungen in der Presse berichtet wird. In der Praxis gibt es zwar die Möglichkeit, das Verfahren durch ein settlement, eine Art Vergleich mit der Behörde abzukürzen und dafür gar einen „Rabatt“ auf das im Raum stehende Bußgeld zu erhalten; aber hier ist nicht alles Gold was glänzt, und eine sehr vorsichtige Abwägung ist im Einzelfall erforderlich.


  In der jüngeren Vergangenheit kommt zu dem Risiko kartellbehördlicher Verfahren ein gravierender weiterer Aspekt hinzu: das zivilrechtliche Schadensersatzrisiko. War es früher fraglich, ob und in welchem Umfang der Verstoß gegen das Kartellverbot zu Schadensersatzansprüchen Dritter führen kann, ist das Geltendmachen solcher Schadensersatzansprüche heute eines der besonders aktuellen Themen in der kartellrechtlichen Praxis. So werden zunehmend die Ansprüche einer Vielzahl von Anspruchstellern gebündelt geltend gemacht. Auch können Anspruchsteller nach heutiger Gesetzeslage im Prozess Erleichterungen für die Darlegung ihrer Ansprüche in Anspruch nehmen, etwa in dem sie im Wege so genannter follow-on Klagen die Entscheidungen von Kartellbehörden als maßgeblich und für das Gericht bindend in den Prozess einführen.

Praktisches Vorgehen

Effektive Kartellrechtscompliance bedeutet zuvorderst, wirksame Vorsorge gegen kartellrechtswidriges Verhalten zu treffen. Dazu muss sich der im Unternehmen Verantwortliche je nach praktischer Erfahrung und Kennt-nisstand mit den kartellrechtlichen Anforderungen und aktuellen Entwicklungen vertraut machen. Dabei sind die klassischen Verstöße gegen das Kartellverbot, die hard core Verstöße, in der Regel bekannt und vergleichsweise einfach zu erfassen: Preisabsprachen zwischen Wettbewerbern und die Aufteilung von Märkten oder Kunden sind in aller Regel ohne weiteres verboten. Wichtig ist die Erinnerung daran, dass selbstverständlich auch rechtlich unverbindliche Formen der Abstimmung, wie etwa durch gentleman’s agreements, vom Kartellverbot erfasst sind.


  Komplexer in der Beurteilung, aber in der Praxis nicht minder wichtig, sind Formen des Kontakts zu Wettbewerbern, die sich auf den ersten Blick im Rahmen des Üblichen und kartellrechtlich Unbedenklichen bewegen, im Einzelfall dann aber doch in einen Kartellrechtsverstoß umschlagen können. Ein Beispiel dafür ist etwa der Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern, ein Aspekt, der vom Bundeskartellamt seit einiger Zeit verstärkt unter die Lupe genommen wird. Auch Wirtschaftsverbände als Plattform für den Kontakt von Unternehmen einer bestimmten Branche stehen dabei im Fokus des Interesses. So kann allein schon der Austausch bestimmter, wettbewerbsrelevanter Informationen problematisch sein und zu einem Verstoß gegen das Kartellverbot führen.


  Auch vertikale Vorgänge wie etwa zwischen Lieferant und Abnehmer stehen im Fokus. So wirft zum Beispiel das Verhältnis von stationärem Handel zu Internetvertrieb eine Vielzahl von Fragen auf. Gleiches gilt für die Grenzen der rechtlich zulässigen unverbindlichen Preisempfehlung; hier hat das Bundeskartellamt etwa im Bereich des Lebensmittelhandels Verfahren eingeleitet und unterzieht wohl auch bisher übliche, weithin praktizierte Verhaltensweisen einer kritischen Bewertung.


  Technologieorientierte Unternehmen beachten, dass der Umgang mit Patenten und Know-how zunehmend kartellrechtlich relevant wird. Unter bestimmten Voraussetzungen darf Wettbewerbern zum Beispiel der Zugang zu wichtigen Informationen nicht verwehrt werden. Bei zentralen Industriestandards, wie etwa im Bereich des Mobilfunks, ergibt sich eine Reihe von kartellrechtlichen Anforderungen im Zusammenhang mit Schutzrechten.


  Dies sind nur einige Beispiele dafür, wie stark sich die Kartellrechtspraxis gewandelt hat. Wichtig ist das grundlegende Verständnis dafür, dass die Grenzen des Zulässigen jedenfalls in einzelnen Bereichen sehr deutlich in Bewegung sind. Als Leitlinie für die kartellrechtliche Bewertung gilt dabei der Grundsatz, dass es zunehmend auf die konkreten wirtschaftlichen Auswirkungen eines Verhaltens auf den Wettbewerb ankommt. Dieser more economic approach erschwert generelle Aussagen über die Grenzen des rechtlich Zulässigen. Er kann im Einzelfall aber auch ein Mehr an Freiheit bedeuten; in jedem Fall zwingt er dazu, die konkreten Auswirkungen eines Verhaltens im Einzelfall zu betrachten.


Umsetzung einer wirksamen

Kartellrechtscompliance


Für die Erarbeitung eines Compliance-Programms sollte zunächst analysiert werden, wo die kartellrechtlichen Risiken schwerpunktmäßig liegen. Dies hängt sehr von der indiv

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